7 Frauen aus Belarus: „Wir sind an der Reihe“
Frauen prägen die Proteste in Belarus. 7 Frauen erzählen Heroinez, wie sie die Demonstrationen erleben, welche Rolle ihre Weiblichkeit dabei spielt – und ob sie das Land und das Bild seiner Frauen verändern werden.
VON ANTONIO PROKSCHA
Die ersten Tage nach den Präsidentschaftswahlen 2020 in Belarus waren von chaotischen Protesten und Polizeigewalt geprägt. Hunderte von Demonstranten wurden festgenommen und zahlreiche Fälle von Menschenrechtsverletzungen in den Gefängnissen wurden bekannt. Doch plötzlich änderte sich die Haltung der Proteste. Frauen in weißen Kleidern, mit Blumen in den Händen, führten die Proteste an und begegneten der Brutalität der Polizei mit Liebe. Seither spielen Frauen eine zentrale Rolle bei den Protesten – sowohl als Organisatorinnen als auch als Teilnehmerinnen.
Am 23. September ernannte sich Alexander Lukashenko selber zum rechtmäßigen Presidenten von Belarus. Sviatlana Tsikhanouskaya, die wichtigste Oppositionskandidatin bei der Präsidentschaftswahl, bezeichnete die unagekündigten Zeremonie als „Farce“ und fängt an eine alternative Regierung zu bilden. Die Proteste gehen währendessen weiter und wo sich die Polizei anfangs scheute Gewalt gegen Frauen anzuwenden, wird sie zunehmend brutaler. Unser Autor hat mit sieben Frauen darüber gesprochen, warum das Engament der Frauen essentiel ist für die Proteste – und wie sich die belarussische Gesellschaft dadurch verändert.
1. Welche Rolle spielen Frauen bei den Protesten, Veronica Laputska? „Es war klar: Frauen sind an der Reihe“
„Als die Proteste nach den Wahlen begannen und viele Männer Opfer von Polizeibrutalität wurden, wie durch Inhaftierung und Folter, wurde den Frauen klar, dass sie an der Reihe sind. Die Tatsache, dass die beliebteste Alternativkandidatin, Sviatlana Tichanowskaja, und ihre Unterstützerinnen hauptsächlich Frauen waren, war sehr wichtig für die Rolle der Frauen innerhalb der Bewegung. Auch wenn die drei Frauen keine feministische Kampagne geführt haben. Sie betonten sogar, dass sie ihre Männer ersetzten und dass sie hier waren, um sie zu verteidigen. Symbolisch gesehen spielte dies eine wirklich wichtige Rolle.
Frauen ersetzen und verteidigen ihre Männer
Auch, wenn es für Frauen unwahrscheinlicher ist, in den Haftanstalten oder bei den Demonstrationen brutal behandelt zu werden: Zu Beginn wurden viele Frauen inhaftiert und gefoltert. Es gibt auch registrierte Fälle von Vergewaltigung und sexuellen Übergriffen an Frauen. Doch später wurde die Omon [belarussische Bereitschaftspolizei] irgendwie daran gehindert, dies zu tun. Zumindest öffentlich gibt es eine psychologische Barriere für Omon, eine Frau zu schlagen. Ich glaube, sie versuchten, dies zu ändern, als sie Omon mit einigen Frauen infiltrierten. Man konnte es nicht wirklich sehen, aber Journalisten nahmen Bilder auf, auf denen man sehen konnte, dass einzelne Beamte Augen-Make-up und/oder in verschiedenen Farben lackierte Nägel hatte. Ich glaube, sie dachten, dass Frauen andere Frauen schlagen oder anders reagieren könnten. Es ist nicht passiert, weil der Protest so gut organisiert war, und sie vermieden jede Konfrontation.“
2. Wie gehen die Frauen vor, Nasta Reznikava? „Sie nutzen Sexismus.“
„Belarus ist eine ziemlich konservative Gesellschaft. Bei vielen Demonstrationen werden mehr Männer als Frauen verhaftet. Bei den ersten Protesten nach der Wahl, am 9.-11. August, wurden vor allem Männer geschlagen und gefoltert. Die Frauen haben das verstanden und nutzten diesen Sexismus, um zu protestieren und ihre Männer zu schützen. Am 11. August protestierten sie am Tag, in weißen Kleidern mit Blumen. Zuerst war es eine einmalige Aktion, dann versammelten sich mehr und mehr Frauen an den Straßenrändern mit Blumen an verschiedenen Orten. Jetzt gibt es Frauenmärsche jeden Samstag.“
3. Wie war die Zeit in Haft, Anastasiya Sheibak? „Körperlich einfacher, emotional schwieriger“
„Körperlich war die Zeit in Haft einfacher, aber emotional schwieriger. Mein Mann hatte weniger Angst um mich, weil er wusste, dass ich nicht geschlagen werde. Ich hörte währenddessen die ganze Zeit Stöhnen und Schläge. Jedes Mal dachte ich: jetzt ist es vielleicht die Stimme meines Mannes. Als ich freigelassen wurde wartete ich noch einen Tag auf ihn und wusste nicht, in welchem Zustand er sein wird. Für mich war es die längste Nacht aller Zeiten. Aktuell nehme ich nicht mehr physisch an den Protesten teil Der Grund dafür ist, dass ich nach meiner Freilassung gezwungen wurde zu unterschreiben, dass ich an keinen Demonstrationen teilnehmen kann, ohne dass dies rechtliche Konsequenzen hat“
4. Wie sehen Sie die Proteste von außen, Alice Bota? „Frauen setzten Weiblichkeit medienwirksam ein.“
„Frauen beschlossen, ihre Weiblichkeit medienwirksam einzusetzen, als Kontrast zur Gewalt der Omon-Polizisten. Eine der Frauen, die die Symbolik mit erdacht hat – die weißen Kleider, die Auftritte barfuß, die Blumen – ist Event-Managerin und hat gezielt überlegt, wie man der „Monstrosität der Omon-Polizisten“ etwas entgegensetzen kann. Sie kamen auf ein fast archetypisches Motiv – die Frau als unschuldiges, reines, friedliches Wesen. Das hat tatsächlich eine Wirkung erzielt, den friedlichen Charakter der Proteste gewahrt, die Aufmerksamkeit internationaler Medien gefesselt – und andere inspiriert. Heute laufen auch feministische Gruppierungen mit, Frauen fühlen sich offenbar aufgefordert, sichtbar zu sein bei den Protesten.“
5. Die Perspektive junger Frauen auf die Proteste, Ekaterina Pogudo? „Wir inspirieren!“
„Ich nehme seit dem Tag der Wahlen an den Demonstrationen teil und gehe jeden Tag vom frühen Morgen bis Mitternacht dorthin. Meine erste Motivation, zu den Demonstrationen zu gehen, war die Verhaftung eines engen Freundes. Ich wusste nicht, wo er war oder was sie mit ihm machten. Ich war zudem mit den Wahlergebnissen nicht einverstanden, ich wusste, dass Svetlana Tichanowskaja gewonnen hatte. Ich war wütend, aber ohne Angst. Obwohl ich wusste, wie gefährlich die Demonstrationen sind, ging ich hin, um zu kämpfen. Ich konnte es nicht ertragen, zu Hause zu bleiben, ich musste ein Teil davon sein. Ich möchte in einem demokratischen Land leben, in dem jeder frei ist, in dem sich die Regierung um Menschen kümmert. Ich glaube, dass der Mut der Frauen die Arbeiter dazu inspirierte, keine Angst zu haben und die Fabriken zu stoppen. Genauso inspirierten sie auch andere Menschen, aktiv zu sein und für unsere Rechte zu kämpfen.“
6. Verändern die Frauen-Proteste das Land, Simone Brunner? „Die Meinungen sind verschieden“
„Ob die Proteste die Rolle der Frauen in Belarus verändern können? Dazu gehen die Meinungen auseinander. Einerseits heißt es, dass die Frauen ja gerade die Macho-Strukturen im Land dadurch vertiefen, indem sie sich selbst als das friedliche, „schwache Geschlecht“ inszenieren. Es nützt zwar den Protesten, nicht aber den Frauen selbst. Andererseits denke ich schon, dass etwa durch die Kandidatur Tichanowskajas und die Unterstützung der beiden anderen Frauen – Maria Kolesnikowa und Weronika Zepkalo – die öffentliche Rolle der Frau aufgewertet wurde. Vor allem Kolesnikowa bezeichnet sich selbst als Feministin und ist als politische Führungsfigur aufgetreten. Das ist neu für die belarussische Gesellschaft.“
7. Ihre Vision, Olga Dryndova? „Frauenthemen werden sich weiterentwickeln“
„Als ich 2005 internationale Beziehungen studiert habe, wurde uns Frauen von den Professoren indirekt gesagt, dass Politik und Diplomatie nichts für Frauen sei. In Minsk hat sich mittlerweile viel geändert, allerdings weniger in den Regionen. Bemerkungen von Lukaschenko, wie die belarussische Verfassung sei nicht für Frauen geschrieben, hat viele Frauen in Belarus verärgert. Dass das politische Trio um Swetlana Tichanowskaja, Maria Kolesnikowa und Weronika Zepkalo bei ihrer Pressekonferenz verkündeten, die Verfassung sei auch für sie geschrieben, hat eine wichtige Rolle gespielt. Ich gehe davon aus, dass das Frauenthema die nächsten Jahre in Belarus präsent bleibt und sich auf jeden Fall weiterentwickelt.
Beitragsbild-Quelle: Antonio Prokscha