Fantasy-Rollenspiele: Wenn Frauen in die Schlacht ziehen
Spitze Kampfschreie, barbarisches Gelächter und obskure Zaubersprüche hallen durch die Gassen der kleinsten Stadt Österreichs, wenn sich fünf Heldinnen mit ihrer Rollenspiel-Gruppe in zuweilen blutrünstige imaginäre Welten stürzen. Geschlechter-Klischees müssen sich hinten anstellen.
VON MARTIN LUGGER
Schon der kurze, aber eindrucksvolle Gang durch die Altstadt Rattenbergs im Tiroler Unterland beschwört eine beinahe mystische Stimmung. Die letzten Strahlen der Spätsommersonne verleihen den mittelalterlichen Steinhäusern einen unwirklichen Glanz. Die bereits im Schatten liegende Burgruine, in der Wilhelm Biener vor vier Jahrhunderten seinen Kopf verlor, thront unheilvoll über den Dächern des 300-Seelen-Städtchens. Hier ereilt auch jene ein melancholischer Schauer, die Romantik bisher im Wörterbuch nachschlagen mussten.
Als die eisenbeschlagene Haustür schwer ins Schloss fällt, scheint es kein Zurück zu geben. Vom Spielezimmer ertönt bereits Stimmengewirr, doch noch hat die heutige Runde nicht begonnen. Die fünf Mädels sind gerade eingetroffen und nehmen um einen großen Holztisch Platz – ein paar Dosen zischen, Kronkorken ploppen und die Lautsprecher am benachbarten Computertisch kündigen mit atmosphärischen Lautenklängen an: Heute wird dieser Welt der Rücken gekehrt.
Monster, Dungeons & Heroines
Ein großer Karton mit der verschlungenen Aufschrift „Descent: Reise ins Dunkel“ wird geöffnet. Es ist nur eines von Dutzenden Spielen und Spielerweiterungen, unter deren Last ein fein säuberlich geordnetes Wandregal ächzt. „Wir spielen schon das ganze Jahr lang Descent“, erklärt Astrid. „Ein Spieldurchgang dauert rund 100 Stunden. Da ist man einige Monate beschäftigt, auch wenn man sich regelmäßig trifft.“ Descent ist ein kooperativer Dungeoncrawler, eine Form von Rollenspiel, bei der eine Gruppe von Heldinnen und Helden – sogenannte Charaktere – eine Reihe von Abenteuern bestehen muss. Dabei werden die an klassische Fantasy-Literatur angelehnten Kunststofffiguren auf dem Spielbrett von der (bösen) Spielleitung mit allerlei gefährlichen Kreaturen, Fallen und Hinterhalten konfrontiert. Die Spielzüge und Aktionen laufen ähnlich wie bei herkömmlichen Brettspielen rundenweise über ein komplexes Würfel- und Spielkartensystem ab. Das Regelwerk ist umfangreich und kann zusammen mit den Beschreibungen der einzelnen Abenteuer ganze Bücher füllen. Das Spielerlebnis wird natürlich von den erzählerischen Qualitäten der Spielleitung maßgeblich beeinflusst. Die Hintergrundgeschichte entspinnt sich langsam, jede Mission hat eine andere Zielsetzung und Rahmenhandlung.
„Jede Spielesitzung baut auf der vorangegangenen auf, da ist es wichtig, dass man eine Gruppe hat, die mit Leidenschaft dabei ist.“ Die 27-Jährige – im Alltag gerade in psychotherapeutischer Ausbildung – hat schon öfters den bösen Overlord gespielt, heute nimmt sie auf der Seite der Heldinnen Platz. Die Spielfiguren werden für die bevorstehende Aufgabe ausgerüstet. „Ich brauche heute eine Lederrüstung und eine zweihändige Streitaxt“, ruft Babsi in die Runde. Ihre schulterlangen Locken wippen aufgeregt, ihr Charakter Avric Albright hat seine Waffe kampfbereit und steht schon an der Ausgangsposition. Trotz seines martialischen Aussehens ist Avric ein Heiler und verfügt über viele nützliche Fähigkeiten. „Meine Stärken liegen weniger im Kampf, ich unterstütze andere, indem ich ihnen zum Beispiel verlorene Lebenspunkte zurückgebe.“ Im Alltag ist Babsi Buchhalterin. „Ein wenig sozialer Beruf“, bemerkt sie mit leicht geröteten Wangen und lacht. „Vielleicht ist das ein unbewusster Ausgleich.“
Melli hat dagegen ihre Waldläuferin in Stellung gebracht. Die erst 18-jährige angehende Mediendesignerin ist die jüngste in der Runde. „Man findet gleich am Anfang heraus, welcher Charakter zu einem passt. Meiner ist schnell und wendig, hat zwar wenig Lebenspunkte, kann dafür aber sehr gut die Umgebung erkunden.“ Wesentlich robuster wirkt die benachbarte Spielfigur. „Das ist Reinhart, der Barbar,“ sagt Midi mit fester Stimme. „Mit seiner Stärke kämpft er immer in der vordersten Reihe. Er entspricht ganz meinem Motto: Entweder voll oder gar nicht.“ Die zierliche junge Frau lächelt und bringt den muskelbepackten Hünen am Startpunkt in Position. Die Frage, ob das Geschlecht des Charakters eine Rolle spiele, verneinen alle einstimmig. „Das ist absolut kein Thema“, sagt Midi. „Es sind die Fähigkeiten und Eigenschaften die zählen. Die Charaktere unterscheiden sich in vielen Merkmalen, sind aber nicht besser oder schlechter als der andere.“ Astrid hat sich für die Kriegerin Syndrael entschieden. „Ich könnte keinen Magier oder eine Magierin spielen. Meine Figur braucht Körperkraft. Sie muss nach vorne laufen und sich den Gegnern stellen können.“ Sie denkt nach. „Es ist schon so, dass ich auch selbst gerne so wäre.“ Nach einer kurzen Pause ergänzt sie schelmisch: „Wobei durchaus Züge in dieser Richtung vorhanden sind.“
Weil die fünfte im Bunde kurzfristig absagen muss, springt Astrids Freund Stefan für sie ein. Er wird heute als Overlord versuchen, den vier verbliebenen Freundinnen das Leben so schwer wie möglich zu machen. Auf dem Programm steht eine Aufgabe namens „Die Armee von Dal’zumm“. Die besagte Armee besteht aus Zombies, welche die Menschen der Umgebung terrorisieren und versuchen, diese ebenfalls in Zombies zu verwandeln. Die Heldinnen haben den Auftrag, die untote Horde aufzuhalten und so viele auf der Karte verteilten Flüchtlinge wie möglich zum rettenden Ausgang zu begleiten.
Die Einsatzbesprechung wird zur lebhaften Diskussion. „Heute trennen wir uns nicht, wir gehen geschlossen hier lang“, sagt Babsi und zeigt mit dem Finger eine Route auf dem Spielfeld. „Nein, da werden wir sicher von drei Seiten angegriffen“, widerspricht Melli. „Wir müssen vorsichtig außen herum. Das wird eine spannende Angelegenheit.“
Faszination Fantasy: In eine andere Welt eintauchen
Die fünf jungen Frauen waren schon vor der Gründung der Rollenspiel-Gruppe gute Freundinnen. Auf Astrids Anregung hin starteten sie im vergangenen Jahr einen ersten Spieleabend mit HeroQuest, dem Urvater der kooperativen Dungeoncrawler aus dem Jahr 1989. Alle waren sofort von dieser Art des Spielens fasziniert. „Du schlüpfst in eine andere Rolle und bist plötzlich woanders“, beschreibt Melli den Moment, als es bei ihr „Klick“ gemacht hat. „Mir haben immer schon die oft fantasievollen Geschichten bei Computerspielen gefallen“, sagt Astrid. „Allerdings hat es mich nie gereizt, allein vor dem Bildschirm zu sitzen.“ Rollenspiele seien die ideale Lösung. „Wir erleben spannende Geschichten, und das mit Teamwork.“ Laut Midi muss man außerdem Strategien entwickeln und vorausschauender spielen als bei herkömmlichen Brettspielen. „Die Herausforderung ist wesentlich größer. Man bleibt über die ganze, monatelange Kampagne mit seinem Charakter an einer Story dran.“
Das Faible für fantastische Welten einte den Heldinnen-Trupp auch vor der Zeit als aktive Spielerinnen. „Fantasy-Filme und Anime-Serien haben bei mir immer etwas ausgelöst“, überlegt Astrid. „Ich weiß nicht ob, man es eine Flucht vor der Realität nennen kann. Aber sie waren immer zumindest ein Ansporn für meine Fantasie. Alles was normal ist, ist so langweilig.“ Babsi stößt in ein ähnliches Horn. „Ich lese fast ausschließlich Fantasy-Literatur, angefangen von Harry Potter über Das Lied von Feuer und Eis (Game of Thrones) bis hin zu den Werken von Trudi Canavan. Die Bilder die entstehen, aber auch die Figuren und Zauberwesen haben einen großen Reiz. Das Alltagsleben ist weg und alle Grenzen sind aufgelöst.“ Eine Situation, die auch beim Rollenspielen eintreten kann. Midi bringt es poetisch auf den Punkt: „Man entfließt in eine andere Wirklichkeit.“
Blut und Beuschel: Manchmal hilft nur Gewalt
Bereits kurz nach Spielstart kommt es zu den ersten Kämpfen. Nicht nur Zombies greifen die Heldinnen an, auch riesige Spinnen bedrängen die Gruppe. „Wir kommen nicht durch.“ Astrid schüttelt den Kopf. Die Hektik ist spürbar, die Angriffs- und Verteidigungswürfel fallen in immer kürzeren Abständen. Zu allem Überfluss erhebt sich ein mächtiges Feuer-Elementar aus dem Boden und speit einen Feuerball auf Midis Barbaren. Das Ausweichmanöver gelingt mit einer gewürfelten Glücksprobe. Stattdessen trifft der Feuerball jedoch die unmittelbar dahinter stehende Kriegerin Astrids. Sie findet das schadenfreudige Gelächter in der Runde alles andere als komisch. Doch Babsi hat Mitleid und schenkt ihr eine Spezialkarte aus ihrem Repertoire. „Damit kannst du einen zweiten Verteidigungswürfel verwenden.“ Doch es nützt alles nichts, der Wurf misslingt und die Kämpferin haucht ihr Leben aus. Der frusterfüllte Aufschrei Astrids lässt selbst die meterdicken Wände des jahrhundertealten Hauses erzittern. Die Gruppe wankt, alles hängt nun am feinen Bogen der Waldläuferin. Melli sieht ihre Chance, sie wird von den anderen angefeuert. „Durchbohre es!“ Alle Augen folgen gebannt den springenden Würfeln – maximaler Schaden. Das Feuerelementar erleidet acht Schadenspunkte und wird damit in die Hölle zurückgeschickt. Die Hände gehen jubelnd in die Höhe. Der wohl schlimmste Gegner dieser Runde ist Geschichte.
Kampf ist ein zentrales Spielelement, ohne Gewalt ist kaum eine Mission erfolgreich abzuschließen. Eine Tatsache, die selbst den friedliebendsten Naturen in der Damenrunde nur ein müdes Lächeln entlockt. „Dass es manchmal brutal zur Sache geht ist schon in Ordnung“, meint Babsi. „Es gibt einen großen Unterschied zwischen Spiel und realer Gewalt.“ „Die Kämpfe machen doch gerade den Reiz aus“, sagt Astrid. „Es geht immerhin um Leben und Tod. Wenn der Charakter oder die Truppe in Gefahr ist, wird es eben unschön.“ Außerdem folge wohl keine in der Runde dem gängigen Klischee. „Mit Liebesschnulzen kann ich nichts anfangen. Es muss schon Action und Gemetzel dabei sein“, sagt sie lachend. „Mir gefallen die Schlachten sehr gut, es geht ja schließlich auch gegen Monster“, bestätigt Midi. „Außerdem dreht sich das Spiel ja nicht nur um Kämpfe. Oft sind sie nebensächlich und die Heldinnen müssen Schätze oder Schlüssel finden oder eben Flüchtlinge beschützen. Die Ziele lauten immer anders.“
Wir sind alle gleich verschieden
Trotz des glorreichen Sieges über das Feuerelementar entwickelt sich die Partie nicht nach dem Wunsch der tapferen Heldinnen-Runde. Immer mehr Flüchtlinge sind bereits zu Zombies geworden und greifen aus allen Richtungen an. „Wir kommen einfach nicht mehr durch.“ Nach über drei Stunden Spielzeit droht das Ende – alle Heilzauber und stärkenden Tränke sind verbraucht. Als die letzte Heldin fällt, wird es kurz still. Das Böse hat heute einen seltenen Sieg davongetragen. Diesmal gibt es keine Erfahrungspunkte, die nächste Sitzung wird also umso schwieriger werden. Die Truppe kennt aber keine Resignation und ist in Gedanken schon beim nächsten Termin in 14 Tagen. Die heute erbeuteten 100 Goldstücke werden sogleich in neue Ausrüstung gesteckt. Dach kurzer Beratung fällt die Entscheidung auf die mächtige „Klinge des Zorns“. Zumindest eine der Heldinnen wird sich im folgenden Abenteuer über zusätzliche Schadenspunkte freuen.
Nächstes Mal wird die Runde hoffentlich wieder vollzählig vertreten sein. Auch wenn eine gemischte Runde wie heute für die Spielerinnen nichts ändert. „Das Geschlecht der anderen Mitspieler ist kein Thema“, erläutert Astrid. „Es taugt einfach allen, die mitspielen. Jeder ist so auf das Spiel konzentriert, dass sich diese Frage gar nicht stellt.“ Babsi sieht die Sache ähnlich. „Bei uns macht da niemand einen Unterschied. Ich sehe in unseren Reihen auch kein klischeehaftes Bild einer Frau oder eines Mannes. Es gibt einfach verschiedene Persönlichkeiten. Warum sollte ausgerechnet das Geschlecht eine Grenze bilden?“ Auch für Männerrunden sei es noch nie ein Problem gewesen, wenn auch Frauen mitspielen. „Bei einem anderen Spiel sind wir aber einmal unterschätzt worden“, erinnert sich Midi und grinst. „Als wir sie dann vernichtend geschlagen haben, hatte ich schon das Gefühl, dass die Herren in ihrem Stolz ein bisschen verletzt waren.“
Für Stefan, der heute als Bösewicht einen Sieg einfahren konnte, ist es eine Wohltat, dass nun verstärkt auch Frauen in der lokalen Szene vertreten sind. Nicht zuletzt deshalb, weil es nicht leicht sei, dauerhaft verlässliche Mitspieler zu finden. „Man braucht Menschen, die sich regelmäßig Zeit nehmen und sich gerne in eine fiktive Welt ziehen lassen und dort agieren.“ Seit 15 Jahren spielt er leidenschaftlich und mit großem finanziellen und zeitlichen Aufwand – vorher Tabletop-Spiele wie Warhammer 40k, seit drei Jahren vor allem kooperative Dungeoncrawler. Inzwischen gibt es im Freundeskreis über 20 Spielefans, die sich in diversen Rollenspielen gemeinsam ins Abenteuer stürzen. „Es gibt keine geschlechtsspezifische Spielweise“, betont Stefan. „Auch bei den Spielerinnen gibt es jene, die vorpreschen und die Gruppe mitunter ins Verderben stürzen, weil sie sich in Szene setzen und die Heldin spielen wollen. Es gibt immer gierige, ängstliche, aufbrausende und fürsorgliche Charaktere, die sind in allen Gruppen gleich vertreten.“ Über die Frage, warum weibliche Heldentruppen immer noch die Ausnahme sind, herrscht ebenso Einigkeit. Es würde bei Frauen oft einfach der soziale Anknüpfungspunkt fehlen. Bei den Heldinnen von Rattenberg genügte schon Astrids Begeisterung und ein Spieleabend, um eine eingeschworene Runde passionierter Abenteurerinnen ins Leben zu rufen.
Beim Verlassen der Spielstätte herrscht bereits tiefste Nacht. „Nächstes Mal sind wir stärker als je zuvor.“ In den dunklen Gassen des charmanten Städtchens am Inn trennen sich die Wege der Heldinnen. Wieder gibt es viele Geschichten zu erzählen, Kämpfe zu analysieren und Pläne zu schmieden – für den nächsten Ausflug in die grenzenlose Welt der Fantasie.
Farbveredelung. Im Neuzustand sind Spielfiguren grau und unbemalt. Viele Fans gestalten die Miniaturen in aufwändiger Kleinstarbeit selbst. Der Detailreichtum ist oftmals beeindruckend – so manches Monster wird durch die Bemalung zum wahren Kunstwerk. Neben viel Übung und künstlerischem Talent benötigt man vor allem eines – Zeit. „Gerade wenn man den eigenen Helden bemalt, möchte man auch feinste Details herausarbeiten“, sagt Stefan, der selbst bereits viele Figuren farblich zum Leben erweckt hat. „Da können schon einmal 10 Stunden vergehen.“ Wer über zu wenig Zeit oder Können verfügt, kann die Figuren auch von Profis bemalen lassen – natürlich gegen einen entsprechenden Obolus.
Die Szene wird weiblicher. „Vor 20 Jahren waren Tabletop- und Rollenspiele ein Kellerhobby für komische junge Männer.“ Peter Wimmer, Geschäftsführer des Salzburger Unternehmens Gamers Finest, kennt die Spieleszene seit Jahrzehnten. „Heute haben sowohl Spiele in allen Ausprägungen als auch die Community eine breite Öffentlichkeit. Das Image und der Auftritt der Szene sind ganz anders als früher.“ Die Altersstruktur hätte sich fast vollständig aufgelöst, ebenso jene des Geschlechts. Gamers Finest betreibt drei Läden in der Stadt Salzburg – jeweils mit verschiedenen Schwerpunkten. Tabletop-, Rollen- und Kartenspielerinnen und -spieler treffen sich hier, spielen ihre Lieblingsspiele, können die neuesten Produkte erstehen oder einfach nur chillen und einen Kaffee trinken. „Auch in unseren Läden merkt man die Öffnung der Community. Wir sind gemütlich wie ein Wohnzimmer eingerichtet.“ Man sehe auch an den nackten Zahlen, dass Gaming inzwischen ein Frauenthema geworden ist. „Quer durch alle Spiele haben wir einen weiblichen Anteil von locker 30 Prozent.“ Auch Vorurteile seitens der eingeschworenen Core-Community gäbe es keine. „Ganz im Gegenteil. Es haben alle eine Freude, wenn auch Mädels dabei sind.“ Für interessierte Damen heißt es also: Einfach mal auf einen Kaffee vorbeischauen und eine Runde ausprobieren.