Filmkritik „365 Tage“: Frauen! Was ist mit euch los?
„365 Tage“ ist der meistgesehene Netflix-Film des Sommers, seine Zuseher vor allem weiblich. Der Film trieft vor Porno-Klischees und bedient ein fragwürdiges Verständnis für die Rolle der Frau. Unsere Autorin fragt: Frauen, was ist mit euch los?
von KATIA WAGNER
Die Geschichte – wenn sie sich diesen Namen überhaupt verdient – ist schnell erzählt: ein reicher, muskulöser Mafia-Boss entführt eine junge Frau und gibt ihr 365 Tage Zeit, um sich in ihn zu verlieben – die , damit er sie wieder freilässt. Expliziter Sex, teilweise mit Gewalt- und Vergewaltigungsanspielungen, und kontrastreiche Bilder von billigem Luxus spicken über weite Strecken den Film. So viel zum Inhalt, zwei weitere Teile sind aufgrund des großen Erfolgs in Planung.
Der Erfolg von „365 Tage“ gibt alten, weißen Männern Recht
Das ist nicht nur aufgrund der auffallend seichten Handlung erstaunlich. Auch, dass ein derart frauenverachtender Plot im Jahr 2020 so viele vor allem weibliche Zuseher anzieht, gibt zu denken. Es scheint offenbar genügend Geschlechtsgenossinnen zu geben, die tagsüber gegen Sexismus auf die Straßen gehen und sich nach getaner Arbeit abends Vergewaltigungs-Schinken reinziehen. Wasser predigen und Wein trinken – kein Wunder, dass viele sogenannte „alte, weiße“ Männer unsere Emanzipationskampagnen belächeln. Der Erfolg von „365 Tage“ gibt ihnen Recht.
„Baby, hör zu. Wenn dein Leben darauf basiert, dir mit Gewalt zu nehmen, was du willst, kannst du dein Verhalten nicht so leicht ändern. Provozier‘ mich nicht!“
Mafiaboss Massimo im Film „365 Tage“
Ich schäme mich für diejenigen, die „365 Tage“ so erfolgreich gemacht haben
Auch als Frau muss ich mich für meine Geschlechtsgenossinnen, die diesen Film so erfolgreich gemacht haben, schämen. Aber, zugegeben: ich habe ihn auch gesehen, wenngleich ich wünschte, ich hätte es nicht getan. Eine Freundin, eine g’standene Unternehmerin, wie sie im Buche steht, hat ihn mir ohne große Erklärung empfohlen. Ich solle keine Fragen stellen, er wird mir gefallen. Ein Filmtipp wie ein Drogenkauf. Das hätte mich alarmieren sollen.
Erkenntnis: dieser Film ist tatsächlich ernst gemeint!
Fasziniert von der üblen Umsetzung des Films habe ich ihn dann doch zu Ende gesehen. Bis zum Schluss habe ich gedacht oder gehofft, dass irgendwann ein gefinkelter Plottwist das Ruder rumreißt und dem Zuseher seine eigene Primitivität, einen solchen Film so lange durchgehalten zu haben, vor Augen führt. Dieser Moment kam nicht. Der Film endete – wie kann es auch anders sein – mit dem tränenschwangeren Tod des Kelleropfers in den Armen des starken Vergewaltigers. Mädchen tot, Mann traurig, aber der Hugo-Boss-Anzug sitzt. Und die Erkenntnis, dass dieser Film ernst gemeint war, ließ mich fassungslos zurück.
Du kannst es entweder schwer machen für dich und mich, oder das Abenteuer genießen, das dir das Schicksal geschenkt hat.
Mafiaboss Massimo im Film „365 Tage“
Möchten Sie keine Vergewaltigung sehen? Blenden Sie es doch einfach aus!
Völlig zu Recht fordern nun mehrere Petitionen die Löschung des Films. Die 70.000 Unterschriften, die die Betreiber bereits gesammelt haben, scheinen Netflix aber wenig zu beeindrucken. Man könne in den persönlichen Einstellungen der Streamingplattform justieren, welche Inhalte angezeigt werden und welche man ausblenden möchte, der Zuseher möge sich selbst filtern. Eigenverantwortlichkeit, ob man eine sexistische Vergewaltigungs-Verherrlichung sehen will? Ja, genau.
Wir müssen aufstehen, sonst bleiben wir Opfer
Wir alle werden darüber nachdenken müssen, welche Welt wir unseren nachkommenden Generationen wünschen. Den Grundstein dafür legen wir hier, jetzt und heute. Wer sich für seine Tochter eine offene, chancengerechte Welt ohne Diskriminierung wünscht, muss entschlossen gegen den aufkeimenden Hype eines rückwärtsgewandten Opfer-Frauenbildes auftreten und eben auch Filme wie diesen mit aller Kraft boykottieren. Sonst dürfen wir uns nicht wundern, wenn sich nichts ändert. Dann werden wir immer nur Opfer sein.
Beitragsbild-Quelle: Netflix