Natürliche Verhütung: „Nie wieder Pille“
Verena Renzler hat genug von der Pille: Nicht künstliche Hormone, sondern die genaue Beobachtung ihres Körpers soll ihr sexuelle Sicherheit bringen. Funktioniert das?
VON WILLI GIULIANI
Eine Minute vor sechs. Im Schlafzimmer von Verena Renzler unterbricht nur das eintönige Ticken des Weckers die Stille. Draußen dämmert es, der Tag bricht an. Drinnen macht sich der Wecker bereit. Wenn er Alarm schlägt, in knapp einer Minute, kommt es zum Showdown im Morgengrauen. Müde wird die 45-Jährige zuerst den Wecker schimpfen und dann den Moment verfluchen. Weil das nicht hilft, wird sie zum bereitgelegten Fieberthermometer greifen, es unter die Achsel klemmen, sich zur Seite drehen und wieder eindösen. Bis der Schlummermodus des Weckers sie erneut hochreißt. Dann muss es schnell gehen: Renzler holt die Mappe mit den Monatsblättern aus dem Nachtkästchen und trägt die auf halbe Zehntelgrad genau gemessene Temperatur in die Tabelle ein. Dass sie das gleich und genau tut, ist essenziell.
Selbstdisziplin ist der Schlüssel, damit natürliche Verhütung funktioniert. Fachleute und Ärzte sprechen von der sympto-thermalen Methode, eine Kombination aus Temperaturmessung und der Wahrnehmung körperlicher Vorgänge. Nur wer täglich misst und seine Wahrnehmungen notiert, weiß später über Eisprung und Fruchtbarkeit Bescheid.
Schlechtes Gefühl
Zeitsprung fünfzehn Jahre zurück. Wie 52 Prozent aller Frauen ihrer Altersgruppe verhütet Verena Renzler zu dieser Zeit mit der Pille. Die 30-jährige Physiotherapeutin arbeitet in einem Tiroler Krankenhaus. Sie steht voll im Leben, ist seit kurzem Single. Zeit, um Veränderungen anzugehen.
„Der Gedanke, mit der Pille aufzuhören, ist mir schon länger durch den Kopf gegangen. Täglich Hormone zu schlucken, hat sich für mich nicht gut angefühlt.“
Die Physiotherapeutin spürt keine unmittelbaren Nebenwirkungen von der Pille. Wohl fühlt sie sich dennoch nicht. „In der Pille sind körperfremde Stoffe, die nichts in mir verloren haben.“ Sie setzt dem Hormonspuk ein Ende und die Pille ab. Nach Jahren täglicher Einnahme reagiert ihr Körper massiv. Die Regelblutung bleibt aus: „Das ist eineinhalb Jahre gegangen, obwohl mir Ärzte und Beipackzettel weismachen wollten, dass es höchstens ein paar Wochen dauert.“
Hilfe muss her. Der Frauenarzt, den sie konsultiert, hat aber nur einen Ratschlag: Wieder mit der Pille anzufangen. Weil sie das ablehnt, verschreibt er ihr ein anderes, angeblich leichtes Hormonpräparat. Verena Renzler ist skeptisch und geht mit dem Rezept in der Hand zu einer Ärztin, um eine zweite Meinung einzuholen. Die bestätigt ihre Befürchtung: „Mit dem, was der mir aufgeschrieben hat, würde sogar eine 70-jährige wieder die Regel bekommen.“ Renzler organisiert sich eine neue Frauenärztin. Ihr Entschluss steht fest: „Nie wieder Pille.“
Anteil der Pille geht zurück
So wie der Innsbruckerin geht es vielen Frauen in Österreich. Das noch immer stark in den Vordergrund gestellte Versprechen von Pharmakonzernen, die Pille würde Frauen Freiheit und Selbstbestimmung bringen, verliert an Glaubwürdigkeit. In den Augen der Frauen ist das Gesundheitsrisiko von jahrelanger Einnahme von körperfremden Hormonen nicht einzuschätzen: ein Preis, den viele Frauen nicht mehr zahlen wollen.
Ein Bild, das auch der aktuelle Österreichische Verhütungsreport bestätigt. Das Marktforschungsinstitut „Integral“ hat die Erhebung im Auftrag des Gynmed Ambulatoriums Wien durchgeführt. 60 Prozent aller Frauen gaben bei der Befragung an, dass ihnen eine hormonfreie Verhütung wichtig bis sehr wichtig ist. Jede dritte Frau vermeidet hormonelle Verhütung aus Sorge vor den Nebenwirkungen. Zahlen, die den Status der Pille relativieren. Der Anteil der hormonellen Verhütung sank von 2012 bis 2019 von 60 Prozent auf 44 Prozent.
„Wir beobachten eine Hormonskepsis und einen Trend zu weniger wirksamen nicht hormonellen Methoden.“ Martin Mayr, Marktforschungsinstitut „Integral“
Die Pille: Ein profitables Geschäft
Pharmakonzerne sind bemüht, den aufkommenden Gegenwind für ihre Produkte möglichst klein zu reden. Kein Wunder, es geht um viel Geld. Wieviel Pille & Co in die Kassen spülen, ist kaum heraus zu finden. Eine Anfrage bei Bayer Österreich führt zur Auskunft, dass über Umsätze von Verhütungsprodukten in einzelnen Ländern keine Auskunft erteilt wird. Das Internet weiß mehr. Laut dem Online-Statistikportal „Statista“ liegt der Umsatz der Pille bei knapp 600 Millionen Euro. Die Zahlen sind allerdings aus dem Jahr 2011 und stammen aus Deutschland.
Die Verschwiegenheit der Pharmabranche dürfte noch einen Grund haben. Vermutete Nebenwirkungen der Pille haben mittlerweile zu juristischen Konsequenzen geführt. Bayer ist davon besonders betroffen. In den Vereinigten Staaten haben tausenden Frauen den Pharmakonzern auf Schadenersatz verklagt. Der hat sich außergerichtlich mit den Klägerinnen geeinigt und sich zur Zahlung von umgerechnet 1,9 Milliarden Euro verpflichtet. In den USA ist Werbung für medizinische Produkte erlaubt. Bayer hat die Pille mit peppigen Spots beworben.
Klage gegen Bayer
Auch in Deutschland läuft seit April 2011 die Klage einer Betroffenen. Die damals 25-Jährige Tierärztin Felicitas Rohrer hatte im Jahr 2009 eine lebensgefährliche Lungenembolie erlitten. Sie macht die Bayer-Pille „Yasminelle“ dafür verantwortlich. Es ist der erste Prozess dieser Art, es geht um Schadenersatz und Schmerzensgeld in Höhe von 200.000 Euro. Das Verfahren zog sich jahrelang, im Dezember 2018 wurde es von einem deutschen Landgericht abgewiesen. Derzeit läuft die Berufung vor dem Oberlandesgericht. Die Erfolgschancen ihrer Klage möchte Felicitas Roher mit Hinweis auf die Komplexität des laufenden Verfahrens momentan nicht kommentieren.
Keine konkrete Antwort darauf gibt es auch von Bayer Österreich. Der Pharmakonzern feiert sich in diesen Tagen lieber selbst. Grund für den Jubel: Die Pille wird 60 Jahre alt. Deren Entwicklung hält Bayer für einen „Schlüsselfaktor der Emanzipation“ und „einen Wendepunkt in der Gesellschaft“. Frauen sei es ermöglicht worden, „in nie gekannter Weise Kontrolle über ihren Körper zu erlangen und erstmals eine Schwangerschaft zu verhindern.“ Ob derartige Jubeltöne angesichts der steigenden Skepsis von Frauen angebracht sind? Für Verena Renzler steht fest, dass die Pille kein Alleinmittel ist. „Ich war froh, dass ich keine Hormone mehr einnehmen muss.“
Der Preis der Sicherheit
Unbestritten ist, dass die Pille sehr sicher ist. Auskunft darüber gibt der sogenannte Pearl Index. Ein Faktor, der die statistische Wahrscheinlichkeit einer möglichen Schwangerschaft erfasst. Faustregel: Je niedriger der Faktor, umso sicherer die Methode. Der Pearl Index der Pille ist kleiner als eins. Das heißt, dass von hundert Frauen, die mit der Pille verhüten, höchstens eine schwanger wird. Der Pearl Index von Kondomen liegt zwischen zwei und 12, jener der sympto-thermalen Methode zwischen 0,4 und 1,8. Das sind Durchschnittswerte des deutschen Bundesverbands „Pro Familia“. Die Aussagekraft des nicht einheitlich definierten Pearl Index wird unter Herstellern und Ärzten immer wieder diskutiert.
Um auf das ihrer Ansicht nach erhöhte Thrombose-Risiko der Pillen der neueren dritten und vierten Generation aufmerksam zu machen, hat Felicitas Rohrer mit anderen Frauen die Initiative risiko-pille.de ins Leben gerufen. Auf ihrer Internetseite machen betroffene Frauen ihre Erfahrungen öffentlich. Sie weisen auf individuelle gesundheitliche Folgen hin und vermuten einen direkten Zusammenhang mit den von ihnen eingenommenen Präparaten. Haufenweise finden sich Einträge wie jener der 34-jährigen Majula, die ohne ersichtliche medizinische Ursache eine Thrombose erlitt. Das Projekt erhält viel mediale Aufmerksamkeit.
Gerichtlich bewiesen oder geklärt sind die Vorwürfe nicht. Pharmakonzerne wie Bayer verweisen darauf, dass ihre Kontrazeptiva wissenschaftlich geprüft und behördlich genehmigt sind. Die Frage, ob sie ihrer 16-jährigen Tochter die Pille empfehlen würde, beantwortet die Sprecherin von Bayer Österreich ausweichend: „Verhütung ist ein sehr wichtiges Thema. Bei dieser Frage würden wir ein Gespräch mit der Frauenärztin empfehlen. Diese wird die passende Methode auf Basis einer individuellen Nutzen-Risiko-Abwägung und unter Beachtung der Gegenanzeigen und Warnhinweise, wie sie in der Packungsbeilage und der Fachinformation aufgeführt sind, empfehlen.“
Neues Selbstbewusstsein
In der Realität von Frauen wie Verena Renzler finden PR-Phrasen der Pharmakonzerne kein Gehör mehr. Das steigende Interesse an nicht hormoneller Verhütung entspricht dem Wunsch, im Einklang mit seinem Körper zu leben.
„Natürliche Verhütung ist vielleicht nicht ganz so sicher, dafür lernt man seinen Körper richtig gut kennen. Das ist weniger bequem als täglich die Pille zu nehmen, aber wenn man sich darauf einläßt, funktioniert es relativ verläßlich.“ Verena Renzler sieht das Leben ohne Pille positiv
Die Innsbruckerin wünscht sich, dass mehr und offener aufgeklärt wird. Damit auch Männer bei der Verhütung mehr mitreden können. Oder müssen.