Rushhour des Lebens: „Der Druck ab 30 ist enorm“
Zwischen 30 und 40 muss alles passieren. Vor allem Frauen spüren die Rushhour des Lebens. Wie vier Betroffene mit dem Druck umgehen und was Expertinnen raten. Eine Multimedia-Reportage.
von ANNA BOSCHNER, STEPHANIE FEICHTINGER, VANESSA GRUBER, DANIELA GRÖSSING
- Katia ist 32, klettert die Karriereleiter hoch, ihre Mutter fragt sie regelmäßig, wann sie endlich Kinder bekommt.
- Viktoria ist 35, Juristin und alleinstehend.
- Melanie* ist 34, Mutter zweier Kinder, arbeitet Teilzeit und versucht nicht in ein Burnout zu geraten.
- Magdalena ist 34 und führt erfolgreich ein Mode-Unternehmen.
Was haben diese Frauen gemeinsam? Sie alle befinden sich in der sogenannten Rushhour ihres Lebens.
Straßenumfrage: Fühlt ihr euch gestresst?
Die Rushhour des Lebens ist eine Zeitspanne, zwischen Ende 20 und Anfang 40, in der viele lebensverändernde Entscheidungen anstehen. Wie wohne ich? Wie kann ich mich beruflich verwirklichen? Möchte ich Kinder? Und wenn ja, wie kann ich Kindererziehung und Beruf vereinbaren? Es ist eine Zeit, in der das Leben sehr dicht wird. Nicht jeder kommt mit diesem Druck zurecht. Wir haben vier Frauen vor das Mikrofon gebeten, um mit uns über ihre Lebens-Strategie während dieser Zeit zu sprechen. Den Anfang macht die Moderatorin Katia.
Katia: „Der 30er war ein Einschnitt im Leben“
Im Podcast: Katia über familiären Druck
„Der 30er war schon ein Einschnitt im Leben“, spricht Moderatorin Katia (32) ein Thema an, das viele Frauen beschäftigt. Plötzlich seien Erwartungen an sie gerichtet worden. „Von außen kommt der Druck, dass man gewisse Dinge als Frau tun muss. Wenn im Umfeld plötzlich alle Kinder bekommen und anfangen Häuser zu bauen, überlegt man sich: Was ist eigentlich bei mir falsch?“. Sie findet, dass Frauen und Männer unterschiedlich behandelt werden würden: „Für einen Mann geht das Leben ab 30 richtig los und als Frau ist es ab 30 mit der unbeschwerten Jugend vorbei und man sollte sich überlegen wohin die Planung geht. Das ist unfair.“
Viktoria: „Druck durch soziale Medien“
Im Podcast: Viktoria über die Unmöglichkeit der Lebensplanung
Selbstverwirklichung findet die 35-jährige Juristin Victoria bei ihren Reisen und beim Schreiben. Heuer hat sie sich endlich einen Traum erfüllt und ihr erstes Buch veröffentlich. Worum es geht? „Um eine Frau, die sich auf Sizilien verliebt. Jedoch kommt sie aus einer nicht verarbeiteten Trennung, weshalb sie ihn immer wieder zurückstößt und im Endeffekt durch ihre Unsicherheiten sich selbst im Weg steht“, sagt sie. „In der typischen Rushhour befinde ich mich nicht, aber einen gewissen Druck spüre ich schon. Vor allem von sozialen Medien.“
Warum gibt es die Rushhour?
„Der Zeitplan fürs Kinderkriegen hat sich deutlich verlagert“, weiß Frauenärztin Sarah Hösel und fährt fort: „Früher war der Kinderwunsch meist mit 25 Jahren aber zumindest bis zum 30. Lebensjahr erfüllt. Heute fängt die Familienplanung oft erst mit 30 an. Da man ab 35 Jahren eine Risikoschwangerschaft hat und die Fruchtbarkeit mit steigendem Alter sinkt, erhöht sich der Druck für Frauen. Patientinnen, die über 30 und alleinstehend sind, leiden massiv. Der Druck rechtzeitig einen Partner zu finden, ist enorm.“ Sie kritisiert, dass die Gesellschaft erwartet, dass Frauen eine Familie gründen. „Viele haben das Gefühl, ohne Familie weniger wert zu sein. Das sorgt für Stress. Immer mehr Medien greifen das Social Egg Freezing auf, aber ist es wirklich ein real umsetzbares Thema für die Business-Frau ohne Partner?“, spricht Hösel das Einfrieren von Eizellen an, dass in Österreich nur für Frauen mit einer Krankheitsgeschichte erlaubt ist und im Ausland viel Geld kostet. „Man muss sich die Frage stellen, warum die Gesellschaft so eine Rush Hour erzeugen muss und Frauen so unter Druck setzt. Frauen sollen Karriere machen, dafür müssen sie oft mehr arbeiten und sich mehr anstrengen, als ihre männlichen Kollegen – und trotzdem sollen sie alte Klischees von der perfekten Hausfrau und Mutter erfüllen. Wer projiziert diesen Druck auf Frauen?“, hinterfragt die Fachärztin (34) kritisch.
„Frauen stehen dreifach unter Druck“
Ist die Rushhour des Lebens ein weibliches Phänomen? „Es stehen auch Männer unter Druck“, sagt Ulrike Hutter, Psychoanalytikerin und Psychologin in Salzburg. Sie erklärt: „Sie müssen sich während dieser Zeit beruflich beweisen und oft das fehlende Gehalt der Frau während einer Karenz kompensieren. Frauen stehen aber dreifach unter Druck: Sie müssen eigentlich zu einer Zeit Kinder bekommen, während man gerade erst mit der Ausbildung fertig ist, sich selbst eigentlich finden sollte und sich erst noch im Beruf etablieren muss. Je gebildeter die Frau, desto länger der Bildungsweg und desto kürzer ist diese Entscheidungsphase. Nach unserem derzeitigen Lebenssystem sollten wir erst mit 50 Kinder bekommen.“ Mit 50 wären wir emotional ruhiger, gefestigt im Leben und auch in der Beziehung.
Schuldgefühle und Kleinkinder
„Wenn die Kinder im Kleinkindalter sind, kommen viele Frauen, aber auch Paare in die Psychotherapie. Sie denken über eine Scheidung nach, sind vom Dauer-Stress erschöpft. Besonders die Frauen haben Schuldgefühle wegen der fehlenden Zeit für die Kinder. Aber auch die Zeit für eine erfüllte Beziehung zum Partner fehlt, die Lust auf Sexualität verschwindet. Dieses Phänomen der Rushhour des Lebens birgt die Gefahr, dass die Liebe zu Fall kommt, die Liebe zu den Kindern, zum jeweiligen Partner, zur Arbeit“, berichtet Ulrike Hutter aus ihrer Erfahrung.
Mutter von zwei Kindern: „Das ist unfair“
Im Podcast: Melanie über den Spagat zwischen Kind und Beruf
„Ich habe mir lange selbst Druck gemacht“, zieht Melanie (35) im Nachhinein Bilanz. Mit zwei kleinen Kindern war der Wiedereinstieg in das Berufsleben von Schuldgefühlen geprägt. „Als ich wieder zu arbeiten anfing, wurde ich oft gefragt, wie ich meine Kinder schon so früh in den Kindergarten geben kann. Zum Vater hat das niemand gesagt“, sagt die Mutter. Druck kam von beiden Seiten: „Während die einen sagen, man muss sich mehr um die Kinder kümmern, empfehlen andere mehr arbeiten zu gehen“, kritisiert Melanie.
Psychologin: Mangelnde Kinderbetreuung führt zu Stress
Die Salzburger Psychologin sieht im Stress, der auf junge Mütter zu kommt, auch eine Schuld des Staates. „Wir bräuchten in Österreich dringend flexiblere Institutionen für Kinderbetreuung. Top-ausgebildete Frauen können es sich nicht leisten, länger als ein bis zwei Jahre vom Beruf fernzubleiben, andere benötigen das Einkommen und müssen auch schnell wieder in die Berufswelt einsteigen. Viele meiner Patientinnen haben Schuldgefühle, weil sie keine Zeit für ihre Kinder haben oder nach der Arbeit zu müde sind, um sich sinnvoll mit ihnen zu beschäftigen. Auch in der Arbeit wird ihnen Druck gemacht, wenn sie pünktlich nach Hause gehen möchten“, sagt die Psychologin.
Madgalena Melitta: „Ich spüre keinen Druck.“
2014 gründete sie ihr Modelabel MAMOKA. Hinter MAMOKA steckt Magdalena Melitta Moser, die die pure Lust am Leben und am Schaffen in sich trägt. Sie ist Absolventin der Modeschule Ebensee in (Oberösterreich), leidenschaftliche Reiterin und hat in Salzburg Wirtschaftsrecht (Master) studiert.
Das Sortiment von MAMOKA ist für Generationen geschaffen und jedes Teil steht für sich oder kann mit anderen kombiniert werden. Genauso wie Magdalena, denn die 34-Jährige hat eine klare Einstellung zur Rush Hour der Lebensentscheidungen. „Den einzigen Druck, den ich verspüre, ist jener den ich mir selber in beruflicher Sicht auferlege“, Magdalena sprüht vor Kreativität und Lebenslust. Sie ist der Meinung, nur wenn man mit sich selbst glücklich ist, kann man vielleicht eine bessere Beziehung führen.
Astrid: „Frauen müssen auf sich selbst vertrauen.“
Foto: SkF
Astrid Widlroither ist Humanenergetikerin, Heilmasseurin und CranioSacral Therapeutin (In Sanften Händen). Ihre Berufung ist es sich auf ihr Gegenüber einzuschwingen und so Blockaden zu lösen. Das Thema Rushhour betrifft sie selbst nur wenig, da sie der Meinung ist, es ist ihre persönliche Entscheidung: „Ich weiß, es gibt Frauen, die den Druck verspüren. In meinem Arbeitsalltag versuche ich, genau diese Frauen auf ihrem Weg zu stärken – indem ich ihnen rate, mehr Achtsamkeit in ihren Alltag einzubauen.“
Im Gespräch mit Stephanie Feichtinger antwortet Astrid, auf den Klassiker, den Frauen beim Familienessen von der Oma zu hören bekommen: „Na, wann ist es denn endlich soweit? Wann bekomme ich den Urenkelkinder?“. Sie spricht von zwei Frauentypen:
Zudem hat sie zwei Übungen parat, die sie Frauen ans Herz legt, die Druck verspüren.
Psychologin: „Nicht jeder hat Großeltern“
Die Psychologin Ulrike Hutter erinnert an ein altes Sprichwort: „Um Kinder groß zu ziehen, bräuchte es, wie man in Afrika sagt, ein ganzes Dorf. Wir haben aber keine Dörfer. Wir bräuchten eine moderne Übersetzung dafür, etwas oder jemand, der schnell einspringt, wenn ein Kind krank wird oder man einen dringenden Termin hat. Nicht jeder hat Großeltern und das System Kindergarten funktioniert nicht sehr gut, das hat auch die Corona-Zeit gezeigt.“ Sie rät, dass sich Mütter ein Netzwerk aus Nachbarn, Freundinnen und Familie aufbauen, die ihnen helfen.
Ob Familie oder Karriere, oder Beruf mit Kind, die Lebensmodelle sind verschieden – der Stress bleibt. Wichtig sei es, wie auch Melanie betont, dass Frauen auf sich selbst hören. „Man muss genau überlegen, was man will und sich nicht davon abbringen lassen“.
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