Tittenknast – (nimmt) schwere Last?
In diesen zwei Körbchen steckt mehr als weibliche Brust. Der Büstenhalter – kurz BH– verkörpert Sünde und Tugend zugleich, wird als Symbol der Unterdrückung verteufelt und kann krank machen. Was soll das denn?
Von JASMINE HRDINA
Ohne Büstenhalter aus dem Haus gehen? Undenkbar für viele Frauen. Die Gründe reichen von zu wenig Halt über gefühlte Blicke bis hin zu „das macht man eben nicht.“ Befürworter der „Freiheit für die Brüste“ hingegen lobpreisen das natürliche Empfinden, „Hanni und Nanni“ ein wenig Spielraum zu gewähren. Wer aber schreibt uns vor, einen BH tragen zu müssen?
Die Medizin tut es jedenfalls nicht, bzw. nur bedingt. Christine Brunner, Oberärztin an der Gynäkologie und Geburtshilfe der Universitätsklinik Innsbruck, führt aus:
So verführerisch Dessous auch sein können - wenn sie nicht richtig sitzen, können sie zu Fehlhaltungen, Rückenschmerzen und Druckstellen oder Hautpilzen führen. Zwischen 40 und 60 Prozent der Frauen tragen die falsche Größe, meint Brunner: „Oft sitzt der BH zu eng, oder es werden zu kleine Cups gewählt. Die Schultern können eingeschnürt werden, oder sie fallen nach vorne. Das führt häufig zu Schmerzen im Rückenbereich.“
Ihr Appell: Ab ins Fachgeschäft und dort vor Ort abmessen und beraten lassen. Viele ihrer Patienten seien es gewohnt, eine gewisse Größe zu tragen. Dass sich der Körper im Laufe der Zeit aber ändert, werde gerne vergessen. Der vor zwei Jahren gekaufte Büstenhalter könnte heute schon nicht mehr passen.
Hängebusen: Die Schwerkraft und das Genlotto
„Wenn du keinen BH trägst, küssen deine Brüste schneller deine Knie“. Diese Behauptung hält gerade junge Damen davon ab, dem BH wegzulassen. Doch mit der Wahrheit hat sie nicht viel zu tun, wie die Tiroler Medizinerin betont. Die Gesetze der Physik, das Gen-Lotto und der Lebensstil sind vielmehr ausschlaggebend dafür, wie die Brust geformt ist. Und – Achtung –, jetzt kommt’s: Eine hängende Brust ist unvermeidbar.
Brunner: „Die weibliche Brust besteht aus Fett-, Binde- und Drüsengewebe. Ob diese leicht erschlaffen oder lange straff bleiben, hängt von Faktoren wie Alter, Lebensstil viel Wasser, nicht rauchen Körbchengröße und Genetik ab.“ Jede Frau besitzt im Prinzip zwei Unikate.
Bei zunehmenden Alter verliert das Bindegewebe an Elastizität. Der natürliche Alterungsprozess beginnt zwischen 30 bis 35 Jahren. „Das kann man nicht vermeiden, auch nicht mit einem BH“, meint die Medizinerin. Jedoch kann ein gut sitzender BH unterstützen, wenn das Gewebe bereits nachgibt. Das gilt speziell bei größeren Brüsten, die – gemäß den Gesetzen der Schwerkraft schneller hängen können. Extreme Gewichtsschwankungen sowie Schwangerschaften und lange Stillzeiten beanspruchen das Gewebe besonders stark. Hier rät die Medizinerin jedenfalls dazu, zu einem BH zu greifen.
Ebenso wie beim Sport. Breite Träger sind ein Muss und der Schweiß muss gut abtransportiert werden können. Wer oft schwitzt könnte ansonsten anfällig für Pilzinfektionen werden. Auch bei kleineren Brüsten biete der Sport-BH einen Schutz – und zwar vor Reibung an den sensiblen Brustwarzen. Aua!
Und nun die Hiobsbotschaft: Straffer wird die Brust auch durch Sport nicht. Zwar wird der Brustmuskel trainiert, dieser liegt aber hinter dem Fett- und Bindegewebe. Bewegung ist jedoch bei der Gewichtsreduktion essentiell – und die wiederum hilft, dass das Bindegewebe nicht so schnell ausleiert.
Brunners Fazit: „Keine Frau sollte das Gefühl haben, immer einen BH tragen zu müssen!“
Historie: Einen „Seck“ für die „Tutten“, bitte!
Warum quetschen, pferchen und pressen Frauen ihre Rundungen dann seit Jahrhunderten in Unterwäsche? Ein Blick in Museen legt nahe, dass es seit jeher weniger um physikalische Unterstützung, als um optische Reize ging.
2012 wurde bei Umbauarbeiten im Osttiroler Schloss Lendberg bei Nickolsdorf der bisher älteste, noch erhaltene BH mit Körbchen entdeckt. Der Stofffetzen aus Leinen dürfte aus dem 15. Jahrhundert stammen. „Die Besitzerin muss eine zierliche Frau gewesen sein. Sie dürfte maximal Konfektionsgröße 36 und ein A-Körbchen gehabt haben“, erklärt Textilarchäologin Beatrix Nutz. Sie nahm den Sensationsfund mit dem Archäologenteam der Universität Innsbruck genauer unter die Lupe. Angesichts der Größe, so vermutet die Wissenschafterin, dürfte das Leinen-Dessous mehr zum Verhüllen gedient haben als dazu, den zierlichen Brüsten Halt zu geben. Die Stoff-Körbchen mit Trägern waren an ein Mieder samt Rock genäht. Bekleidungen dieser Art trugen vor 500 bis 600 Jahren unter anderem Bademägde.
Jugendlich, mädchenhaft, mit kleinen zierlichen Brüsten und einer schmalen Taille das war in der Renaissance (14./15. Jahrhundert) Idealbild, gibt Nutz Einblicke in längst vergangene Zeiten. Was damals mit heute eint: Frau war bereit, einiges auf sich zu nehmen, um dem zu entsprechen. Enge Korsette und Mieder brachten gebrochene Rippen und Schäden an inneren Organen für Generationen von Frauen.
„Große Brüste wurden damals als moralisch nicht einwandfrei betrachtet“, erklärt die Wissenschafterin und verweist auf ein Spottgedicht über die „Tuttenseck“ aus dem 14. Jahrhundert: „Manch eine Frau macht zwei Beutel für die Brüste, damit zieht sie um die Häuser, damit alle Burschen sie ansehen, was für schöne Brüste sie habe. Aber welcher sie zu groß sind, die macht enge Beutelchen, damit es in der Stadt nicht heißt, daß sie so große Brüste habe.“ Möglichst jugendlich und jungfräulich zu wirken, war Mainstream.
Verhüllt wurde der Busen aber schon lange Zeit zuvor, wie Abbildungen auf Vasen und Mosaiken aus der Antike (800 v. Chr. bis ca. 600 n. Chr.) zeigen. Frauen und Mädchen wickelten sich speziell beim Sport Stofffetzen eng um die Brust, um jugendlicher zu wirken, erklärt Nutz.
Große Brüste waren erst ab dem Barock (16./17. Jahrhundert) en vogue. Mit Miedern wurden die Weichteile hochgeschnürt, damit sie am oberen Ende herausquollen konnten. Man teilte die schöne Ansicht gerne mit tiefen Ausschnitten.
Der BH, wie wir ihn heute kennen wurde erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ausgehend von den USA und Frankreich marktreif.
Nippelalarm im Büro: Arbeitsrecht
Die Corona-Pandemie verbannte viele Arbeitnehmer ins Home Office. Dort verzichteten viele Frauen auf einen BH. Ganz nach dem Motto: Viel bequemer, und sieht ja eh keiner. Und wenn man das im Büro auch macht? Wenn sich unter der weißen Bluse Warzenhof und Nippel deutlich abzeichnen könnte das doch die Arbeitskollegen stören. Kein Arbeitgeber will mit dem Begriff „Sexuelle Belästigung“ konfrontiert sein. Das Tragen eines BHs vorschreiben kann in Österreich aber kein Unternehmen, teilt Katharina Raffl von der Gleichbehandlungsanwaltschaft mit. Dafür müsste die Anordnung schon „verhältnismäßig sein“. Was das bedeutet, hängt vom Berufsbild ab. Allgemein gültige Regeln gibt es nicht. Laut Arbeiterkammer kann der Chef aber vorschreiben, welche Kleidungsstücke getragen oder eben nicht getragen werden dürfen. So macht es Sinn, dass wallende Gewänder und lange Ketten bei Arbeiten an Maschinen zum Schutz des Dienstnehmers verboten werden können. In Gastronomie und Krankenanstalten beispielsweise gäbe es Hygienevorschriften. Gewisse Branchen gehen mit einer bestimmten „Vorstellug eines Erscheinungsbildes“ einher, etwa bei Bankangestellten, beim Rechtsanwalt oder beim Steuerberater.
Und wie war das mit der sexuellen Belästigung? Raffl führt durch den Paragraphendschungel des Gleichbehandlungsgesetzes: Demnach könnten deutlich erkennbare Brustwarzen und das Weglassen des BHs nur dann als sexuelle Belästigung gelten, wenn das als „der sexuellen Sphäre zugehöriges Verhalten“ gewertet werden kann. Außerdem müsste dadurch die Würde des Entrüsteten angetastet sein, die Tatsache jedenfalls unerwünscht sein. Und zuletzt sei es Voraussetzung, dass dadurch ein feindseliges oder demütigendes Arbeitsumfeld geschaffen wird.
„Es kommt auf den Einzelfall an, ob diese Elemente erfüllt sind. Ein absichtliches Vorgehen seitens der belästigenden Person ist nicht nötig“, schließt die Regionalanwältin für Salzburg, Tirol und Vorarlberg ab.
Das alles gelte wiederum für männliche, als auch weibliche Brustwarzen. Vor Gericht wurde ein solcher Fall laut Auskunft der Gleichbehandlungskommission jedoch nicht nicht ausgefochten.
Ohne BH: „Schmuggelst du Erbsen, oder ist dir kalt?“
In seiner Geschichte bis heute wurde der BH als tugendhafter Verhüllungskünstler und verführerische Sünde zugleich gefeiert und als Symbol der Unterdrückung der Frau verteufelt. Bei zahlreichen Proteste und Bewegungen für Frauenrechte gingen die zwei Körbchen in Flammen auf.
Selbst heute sorgt das Stückchen Stoff immer wieder für (gesellschafts-)politische Debatten.
Im Land der unbegrenzten Möglichkeiten nein, nicht Amerika, sondern das World Wide Web wimmelt es vor Frauen, die ihre Erfahrungen, ganz auf den „Tittenknast“ zu verzichten. Unter dem Hashtag #freethenipples und #nobra rufen sogar Promis wie Sängerin Rihanna oder TV-Sternchen Kendall Jenner dazu auf, den BH wegzulassen – mit deutlicher Forderung: Die Gleichberechtigung von Mann und Frau. Freiheit für die Nippel! Auch diese Forderung hat sich einen eigenen Hashtag verdient. Im Zentrum steht die Diskussion darüber, wieso männliche Nippel in der Öffentlichkeit salonfähig sind, weibliche jedoch eine Welle der Entrüstung hervorrufen. Für die Verfechter der Bewegung ist es Sexismus, Frauen und Männer hier unterschiedlich zu behandeln.
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Die US-Amerikanischen Designer Michelle und Robyn Lytle wurde für ihr „Tata-Top“ in den sozialen Medien gefeiert. Auf dem in verschiedenen Hautfarben erhältlichen Bikini-Oberteil sind Brustwarzen aufgedruckt. Auf den ersten Blick: Oben ohne! Damit will die Künstlerin gegen das Oben-Ohne-Verbot in der Öffentlichkeit protestieren. Instagram sperrte den Kanal anfangs der beiden Unternehmer wegen unangemessener Inhalte.
Seit Jahren tauchen immer wieder Fotos von Frauen auf, die sich auf ihren Reisen und Wanderungen oben ohne ablichten lassen – mit dem Rücken zum Betrachter. Drei Tänzerinnen aus London sollen die #toplesstour 2012 ins Leben gerufen haben, als sie ihre Büstenhalter an Norwegens Mjøsa-See fallen ließen. Ein Bergfexenteam aus Tirol wollte diese Erfahrung im vergangenen Sommer selbst machen. Auf 1609 Metern Seehöhe lachten ihre Brüste der Bergwelt des Wilden Kaisers entgegen. „Ein unglaubliches Gefühl“, ruft eine der Damen zum Nachmachen auf. „wobei – das kann man auch nur auf einsamen Gipfeln machen.“ Warum?
Beitragsbild-Quelle: privat